Wo immer über die Verdrängung des alten und die Installierung des neuen Ritus gesprochen oder geschrieben wird, kann man erfahren, dieser Vorgang sei auf Forderung und nach den Richtlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils geschehen, mit der höchsten Autorität der Kirche also, die von den Katholiken Gehorsam beanspruchen darf. Auch dies ist eine Legende, die sich die Frommen und die Gleichgültigen gleichermaßen von Leuten einreden ließen, die es besser wußten. Das Konzil hatte im Gegenteil die wesentlichen Elemente des überlieferten Ritus bestätigt, hatte Sakralsprache und Gregorianischen Choral als Sprache und Musik der Kirche geehrt und als wesentliche Neuerung eigentlich nur die Verlesung von Epistel und Evangelium in den jeweiligen Volkssprachen gestattet. Der neue Ritus verdankt sich viel mehr einem dictatus papae und wurde gegen schwere Bedenken vieler Bischöfe zum Teil mit Brachialgewalt durchgesetzt. Dieser von oben angeordneten Revolution folgte eine Revolution von unten. Das stand für die Katholiken nun fest, daß die Riten keinen Respekt beanspruchen durften, sie waren ganz offensichtlich nicht sakrosankt. Wichtige Elemente heutiger Meßfeiern wurden nach dem Zusammenbruch der Autorität einfach erzwungen: an der Spitze die Spendung der Kommunion in die Hand, die mit der praktischen Abschwächung der überlieferten Lehre von der realen Gegenwart Jesu im Brot einherging; dann die Umkehrung der Altäre, die nicht mehr die Anbetung Gottes, sondern das Miteinander der Gemeinde ins Zentrum des Kultes setzte. [...]Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, 2007.
Anarchie verlangt viel Kraft vom Menschen. Die meisten Menschen sind einfach zu schwach dafür. Der Aufstand gegen die große Form landet nach kurzem nicht in der großen Freiheit, sondern in Kitsch- und Kümmerformen. Wie bitter hat die Katholische Kirche, die Mutter aller Form im Abendland, die Wahrheit dieser Erfahrung zu schmecken bekommen.